»Die Wahrheit? Mir doch egal!«

Wie JournalistInnen in unserer Nicht-Wissenwollen-Gesellschaft noch sinnvoll recherchieren und publizieren können.

Keynote von Eduard Kaeser[1]

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Vielen Dank für diese schöne Einführung und überhaupt für die Einladung als Schweizer hier zu Journalistinnen und Journalisten zu sprechen. Ich muss gleich vorneweg sagen, erstens: Ich habe das Thema satt: Postfaktisch! Zweitens stamme ich nicht aus der Branche, ich bin theoretischer Physiker von Haus aus, mit einem Abschluss in Philosophie. Und jetzt fragen Sie sich natürlich, was hat ein theoretischer Physiker hier zu sagen?

Ich meine eigentlich gar nicht so wenig.

Es gibt einen Witz unter theoretischen Physikern, der besagt etwa so viel: Theoretische Physik hat grundsätzlich nichts mit der Realität zu tun, sie distanziert sich von ihr durch abstrakte Modelle und Gedankenexperimente. Deshalb fühle ich mich ein bisschen befugt, auch über das zu reden, was nicht ist. Wir theoretischen Physiker lernen mit Fakten eben ein bisschen spielerischer umzugehen, allerdings nicht im Sinne wie das in der heutigen Politik gemacht wird.

Ich habe gerade heute Morgen wieder in der Zürcher Zeitung zwei Mal „postfaktisch“ gelesen – Joachim Güntner hat über dieses Wort eine Kolumne geschrieben. Es sei jetzt im Oxford Dictionary zum Wort des Jahres gekürt worden. Na gut. Und dann ist auch noch von einem holländischen Soziologen ein Essay zu lesen, der von der heutigen multikulturellen Gesellschaft von einer postnationalen Raumkapsel spricht. Also Sie sehen, diese Metaphorik, sie blüht.

Ich möchte etwas über Wahrheit im postfaktischen Zeitalter sagen und ich werde das Präfix „post-“ jetzt tunlichst vermeiden. Er ist ja so ausgeleiert wie etwa der Begriff des Paradigmas oder des Quantensprungs, was besonders ärgerlich für einen Physiker ist, denn das ist wirklich falsch. Quantensprünge sind die kleinsten Änderungen, die es in der Natur gibt. Ich erinnere mich in diesem Zusammenhang sehr gerne an einen Cartoon, den ich etwa vor dreißig Jahren schon gesehen habe. Postmoderne 20 bis 30 Jahre. Da betritt eine Frau die Post, steht vor dem Postschalter mit dem Schild „Postschalter“ und sie denkt sich: Auch die schon!

Lassen Sie mich mit einer Frau beginnen, in einem fiktiven kriminalistischen Szenario. Warum nicht in einem Berliner Tatort?! Die Frau wird tot aufgefunden, ermordet, wie sich schnell herausstellt. Der Verdacht fällt auf den Geliebten der Ermordeten. Er leugnet die Tat. Es gibt Indizien. Die Folgegeschichte lässt sich nun in mindestens drei verschiedenen Szenarien ausmalen.

Im ersten sprechen die Indizien eindeutig für die Tat. Der Mann wird des Mordes überführt.

Im zweiten Szenario ist der Mann ein einflussreicher Politiker. Die Aufdeckung des Mordes brächte nicht nur ihn, sondern eine ganze Parteientourage in Verlegenheit. Man biegt also die Indizien zurecht, als „Ludenabrechnung“ im Milieu.

Im dritten Szenario konkurrieren verschiedene gleich wahrscheinliche Versionen für den Tod der Frau. Keine kann sich auf der Grundlage der Indizien durchsetzen. Auch ein Selbstmord ist möglich. Der Tod der Frau bleibt unaufgeklärt.

In diesen drei kriminalistischen Szenarien verbergen sich drei philosophische. Sie lassen sich anhand des Verhältnisses von Verdacht und Indizien veranschaulichen. Im ersten Fall wird unser Verdacht bestätigt: Die Wahrheit kommt an den Tag. Die Leitidee dahinter formuliert die klassische Definition des Scholastikers Thomas von Aquin: Wahrheit ist die Angleichung von Denken und Sache – von Verdacht und Tat. Das ist das Szenario der Wahrheit, wie ich es ganz schlicht bezeichnen würde.

Im zweiten Fall versucht eine Gruppe von Menschen selbst festzusetzen, was Wahrheit ist. Die Leitidee hier: Macht bestimmt, was Sache ist. Und deshalb geht es nun weniger um die Angleichung von Denken und Sache, als vielmehr um die Anpassung der Sache an die Macht. Das ist das Szenario der Macht.

Im dritten Fall lassen wir am Ende eigentlich ab von der Sache. Es gibt – um ein berühmtes Wort von Friedrich Nietzsche leicht zu variieren – keine Sachen, nur Interpretationen. Weshalb die Rede von der Angleichung, der adaequatio, ihren Sinn letztlich verliert. Das möchte ich – Sie kennen bestimmt das Essay des amerikanischen Philosophen Harry Frankfurt – als Szenario des Bullshits bezeichnen. In diesem Szenario ist die Lüge eine Institution und die Beweismittel auf der Basis von Fakten verlieren zusehends ihre argumentative Kraft.

Szenario der Wahrheit, Szenario der Macht, Szenario des Bullshits

Die meisten von uns neigen natürlich vorerst einmal zur robusten Grundintuition: Es gibt doch eine faktische Wahrheit, denn schließlich ist die Frau wirklich tot, und dieser Tod hat eine Ursache, ungeachtet, wie kompliziert deren Aufdeckung sein mag. Das ist eigentlich die Auffassung eines Hardcore-Realismus und ich mag mich erinnern, als ich Philosophie studierte vor dreißig Jahren, war das überhaupt ein sehr anrüchiger Begriff. Diese Art von Realismus nannte man damals naiven Realismus. Es gibt zum Beispiel einflussreiche Philosophen wie Karl Popper, der einen solchen naiven Realismus vertrat. Das war noch vor der – jetzt muss ich das Wort trotzdem mal verwenden – Postmoderne. Diese Auffassung vertritt die Meinung, die Welt „wie sie ist“ sei nicht da und aufdeckbar. Dagegen wurde gehalten, dass eben die Welt „wie sie ist“ immer eigentlich schon eine Interpretation ist. Es gibt nicht die Tat, es gibt nur mehr oder weniger erhärtete Tatverdachte.

Was ich Ihnen hier geschildert habe, ist eigentlich ein Akt im Drama der westlichen Geistesgeschichte. Nämlich von der Wahrheit zu ihrer Verabschiedung. Nun möchte ich hier nicht eine Chronologie des Verfalls suggerieren. Die drei Szenarien koexistieren nach wie vor. Nur finden zwischen ihnen insgeheim Gewichtsverschiebungen statt, Verschiebungen in der geistigen Tektonik unserer Zeit, gewissermaßen. Und die laufen meist unter unserer Aufmerksamkeitsschwelle ab. Heute, das wissen wir jetzt allmählich, befinden wir uns zusehends im Szenario der Macht und des Bullshits.

Ich möchte eigentlich in der Folge auch nicht von Wahrheit sprechen, sondern von einer veristischen Haltung. Verismus kennt man vor allem aus der Kunstgeschichte. Wenn ich von Veristik spreche – das klingt nun sehr nach philosophischem Seminar – meine ich damit eigentlich etwas sehr Triviales und Elementares: Nämlich eine Haltung, ein Ethos, das nach Kräften eine umstrittene Sache, einen Verdacht, eine Debatte ins Szenario der Wahrheit zu ziehen sucht.

Ich habe natürlich als Physiker eine Parallele vor Augen – in der Wissenschaft spricht man von Heuristik. Heuristik meint eigentlich, Wege zu suchen, eine Lösung zu finden. Das passt sehr gut hier rein – sozusagen im Sinne von Brass und Brockway. Auch Heuristik ist eine Diskussion wert. Es gibt aber auch Probleme, die man nicht lösen kann und mit denen man sich trotzdem herumschlagen muss. Veristische Haltung, das kann sowohl die journalistische Arbeit beeinflussen, aber eben auch – und das scheint mir wichtig zu sein – diejenige des Konsumenten der journalistischen Arbeit, also des Lesers / der Leserin. Das sollte man nicht vernachlässigen. Beide Haltungen müssen irgendwie miteinander auskommen.

Ethos meint auch Tugend. Jetzt bin ich schon fast wieder bei den antiken Philosophen. Eine Tugendlehre des Journalismus sozusagen. Ich will mich nun nicht zu einem Aristoteles aufspielen, aber doch einige Komponenten eines solchen Ethos kurz zur Sprache bringen.

Im will mit dem Verzicht auf Besitzanspruch beginnen. Das finde ich eigentlich selbstverständlich. Wahrheit ist Allgemeinbesitz. Sie erinnern sich in diesem Zusammenhang wahrscheinlich an die berühmten Worte Lessings: „Nicht die Wahrheit, in deren Besitz irgendein Mensch ist oder zu sein vermeinet, sondern die aufrichtige Mühe, die er angewandt hat, hinter die Wahrheit zu kommen, macht den Wert des Menschen [aus]. […] Der Besitz macht ruhig, träge, stolz.“

Noch schöner, weil knapper, drückt sich Lessing in einem Brief aus: „Jeder sage, was ihm Wahrheit dünkt, und die Wahrheit selbst sei Gott empfohlen.“ – Ein grandioser Satz. Wir Menschen können keinen Gottesstandpunkt in Wahrheitsfragen beanspruchen und wir sollten Gott – sofern es ihn gibt – dafür danken. Das nenne ich erkenntnistheoretische Demut.

Die Worte sprechen vom eigenen Besitzanspruch. Ebenso wichtig ist natürlich der Besitzanspruch des Anderen. Man kann ihm diesen streitig machen, indem man ihn ganz einfach nicht akzeptiert. Das heißt, man fordert die Begründung seiner Legitimität. Fehlende Legitimität kann den heimlichen Machtwillen im Wahrheitsanspruch entlarven. Man kann auch – subtiler – der Behauptung „So ist es“ die Behauptung „Aber es könnte auch anders sein“ entgegenhalten. Robert Musli hat vom Möglichkeitssinn gesprochen: „Wer ihn besitzt, sagt beispielsweise nicht: Hier ist dies oder das geschehen, wird geschehen, muss geschehen; sondern er erfindet: Hier könnte, sollte oder müsste geschehen; und wenn man ihm von irgendetwas erklärt, dass es so sei, wie es sei, dann denkt er: Nun, es könnte wahrscheinlich auch anders sein.“

Diese Haltung finde ich eigentlich ganz wichtig, auch für die journalistische Arbeit. Die Welt immer so zu sehen, als ob sie auch anders sein könnte, nicht nur „so wie sie ist“: Das ist natürlich überhaupt nicht gegen den Recherche-Journalismus gerichtet, sondern meint die allgemeine Einbettung in ein Ethos.

Es ist natürlich kein Zufall, dass es ein Schriftsteller ist, der soetwas sagt. Schriftsteller denken sich: Das Wirkliche ist immer ein Zustand des Möglichen. Da sind sie von den theoretischen Physikern gar nicht so weit entfernt. Theoretische Physiker denken von der Wirklichkeit auch immer: Sie könnte anders sein. Gerade die moderne Quantenphysik denkt nur in Möglichkeiten. Sie rechnet immer mit dem, was nicht ist, aber sein könnte –  und sie hat noch Erfolg damit.

Ich rede jetzt nicht von der Physik, sondern vom Menschlichen. Und in diesem Bereich hat der Satz „Es könnte auch anders sein“ etwas Befreiendes. Ich würde sogar sagen Subversives.

Er löst unseren Blick auf ein Ereignis aus der festen Kalibrierung des Unabänderlichen. „Es könnte auch anders sein“ – in diesem Satz drückt sich die Perspektive des Handelnden aus und nicht des bloßen Beobachters. Das „Es könnte auch anders sein“ hat etwas Aufforderndes, es appelliert an unseren Freiheitsinstinkt und bricht die Unabänderlichkeit dessen, was ist, auf. Mit anderen Worten: Es unterminiert das Szenario der Macht.

Die zweite Tugend wäre Ironie. Auch mit ihr operiert man vor allem im Szenario der Macht. Und dieses Szenario breitet sich beängstigend aus. Allenthalben werfen sich Politiker in autoritäre Positur, mimen den starkmütigen Retter der Welt, Beschwörer großer Zeiten für den kleinen Mann, gerade auch in demokratisch verfassten Ländern. Namensnennungen erübrigen sich hier. Was an diesen „Typen“ generell auffällt, ist Rechthaberei, der Wille zur Meinungsmacht, aber auch der Mangel an Humor. Weil sie sich wahrscheinlich über die Maßen ernst nehmen, fürchten sie nichts mehr, als dass man sie nicht ernst nimmt. Humor, Ironie, Satire sind ihre Todfeinde.

Man kann von den Clownereien Böhmermanns oder von Charlie Hebdo halten, was man will, aber an ihnen lässt sich eine Haltung ausmachen, die zurückreicht zu den antiken Kynikern. Auch wenn sich diese „Hundephilosophen“ hundemäßig aufführten, taten sie dies nicht einfach um der Anstößigkeit willen. Oder vielmehr: Diese Anstößigkeit unterhielt eine innige Beziehung zur Wahrheit. Der Kyniker hatte einfach den Instinkt für Bullshit, und das Bedürfnis, diesen Bullshit anzuprangern.

Die Griechen nannten das Parrhesia: Redefreiheit, aber auch „Über alles reden können“. Und Sie merken, wie aktuell das heute ist, diese Parrhesia. Michel Foucault hat sich in seinen letzten Vorlesungen mit dieser antiken Tugend befasst und betont nachdrücklich die ethische Haltung des Kynikers:[2] „Genauer gesagt, ist Parrhesia eine verbale Aktivität, in der ein Sprecher seine persönliche Beziehung zur Wahrheit äussert und dabei sein Leben riskiert, weil er das Aussprechen der Wahrheit als Pflicht erkennt, um andere Menschen zum Besseren zu bekehren oder ihnen zu helfen [wie auch sich selbst]. In Parrhesia verwendet der Sprecher seine Freiheit und wählt Offenheit statt Überzeugungskraft, Wahrheit statt Lüge oder Schweigen, das Risiko des Todes statt Lebensqualität und Sicherheit, Kritik anstelle von Schmeichelei, sowie moralische Pflicht anstelle von Eigeninteresse und moralischer Apathie.“

Ich meine, so unaktuell ist diese Charakterisierung für unsere heutige Zeit nicht.

Eine dritte Tugend: Wenn es, wie landläufig kolportiert wird, keine Fakten, sondern nur mehr oder weniger bestätigte Meinungen und Interpretationen gibt, dann schießt ein journalistisches Genre ins Kraut, vor allem in den Vereinigten Staaten. Man nennt dies dort „He said, she said“-Stil. Der Journalistik-Professor Jay Rosen von der New York University hat ihn in fünf Merkmalen charakterisiert:[3] Es existiert eine öffentliche Debatte. Die Debatte kreiert News. Kein seriöser Versuch wird unternommen, konfligierende Aussagen zu überprüfen, selbst wenn der Konflikt eigentlich den Grund für die News darstellt.

Das Instrumentarium des Faktenchecks ist verfügbar, aber es wird davon kein Gebrauch gemacht. Zwei entgegengesetzte Aussagen bilden eine symmetrische Konstellation und setzen den Journalisten in die Mitte zwischen mindestens zwei Extreme. Daraus ergibt sich leicht der Fehlschluss: Die Wahrheit liegt etwa in der Mitte. Ich als Schweizer bin sehr vertraut mit diesem Schluss.

Das heißt, wenn X behauptet, die Erde sei rund, und Y behauptet, die Erde sei ein Teller, dann begnügt sich der „Er sagte / sie sagte“-Stil mit der Nachricht: „X sagte, die Erde sei eine Kugel, wogegen Y sagte, sie sei ein Teller.“
Was soll man daraus schließen? Ist die Erde etwas zwischen Kugel und Teller? Jedenfalls ist man mit einer solchen Nachricht fein raus, man hat das Deadline-Problem gelöst und überlässt den Lesern die Entscheidung: „Entscheide du selbst“. Und man ist erst noch der innigen Meinung, man hätte dadurch neutral und ausgewogen berichtet.
Das ist eindeutig das Szenario des Bullshits. Zu schreiben „Y sagte fälschlicherweise, die Erde sei flach“, oder gar: „Y sagte in offensichtlich täuschender Absicht, die Erde sei flach“, würde allerdings gute Argumente oder solide Evidenz voraussetzen, und das bedeutet meistens Maloche. Das ist das Szenario der Wahrheit. Und genau an dieser Stelle tritt die Differenz zwischen Bullshit-Szenario und Wahrheits-Szenario an den Tag. Man bringt Fleiß und Mut auf.

Mut ist das eine, Fleiß das andere. Fleiß heißt, dass man sich in die Sache begeben muss. Das ist meist leichter gesagt als getan. Man ist ja in der Regel kein Experte. Obwohl man Experten zitiert und mit ihnen spricht, tut man dies nicht auf gleichem Niveau.

Daraus resultiert heute das verbreitete „Er sagte / sie sagte“-Genre. Ich denke hier auch an ein Gebiet, auf dem ich mich ein bisschen vertraut fühle, nämlich Wissenschaftsjournalismus. Oft wird einfach referiert und kommuniziert, was in der Forschung so alles läuft. Oft dupliziert man auch einfach PR-Material.

Immer wichtiger erscheint mir deshalb eine andere Tugend. Ich möchte sie als „Meta-Expertentum“ bezeichnen. Ich habe es auch nicht so gern, dieses Wort, finde es aber eigentlich gar nicht so unpassend. Man könnte eigentlich auch sagen Unterscheidungsfähigkeit zwischen echten und unechten, guten und schlechten Experten. Dazu ist kein qualifiziertes Fachwissen nötig, nicht ein Wissen, dass – sondern ein Wissen, wie dieses Wissen präsentiert wird. Wir alle kennen dieses Meta-Expertentum etwa bei technischen Geräten wie dem Computer oder Auto. Ich erkenne die Fachperson sehr schnell daran, dass sie den Druckertreiber wieder in Gang setzt oder die Nockenwelle flickt. Das ist einfaches Meta-Expertentum. Das gibt es allerdings in der Wissenschaft nicht.

Das heißt natürlich nicht, dass die Entlarvung wissenschaftlicher Trickser und Bullshitter unmöglich wäre. Meta-Experten können wir werden, indem wir merken, dass etwas faul ist. Zum Beispiel präsentieren Forscher nur Material, das ihren Standpunkt stützt; oder Forscher sagen uns, ein bestimmter Zusammenhang sei kein Faktum, weil kein Konsens unter Experten herrsche. Übliche Taktik beim Thema Klima. In solchen Fällen genügt eine Art Whistleblower-Bereitschaft gegenüber solcher Forschungspraxis. Gerade der Wissenschaftsjournalismus sollte dieses Meta-Expertentum fördern und pflegen.

Natürlich braucht es im wirklich „faulen Fall“ spezialisierte Insiderarbeit, die zum Beispiel zeigt, dass die statistischen Methoden eines Arztes nicht zu aussagekräftigen Resultaten führen: „Impfen führt zu Autismus“ – solcher Schwachsinn. Oder dass die Gehirnexperimente von Neurologen nicht die Nichtexistenz des freien Willens beweisen, um hier ein aktuelles Beispiel zu nennen. Kürzlich stellten zwei Robotiker von der Leibniz Universität Hannover die Vorstufe zu einer schmerzfähigen Maschine vor. Das wäre zum Beispiel ein Anlass über den Sprachgebrauch dieser Leute zu reden, die Fragen zu stellen, ob und inwieweit man vom „Schmerz“ eines Roboters sprechen kann, oder nicht vielleicht eher von schmerz-analogen Vorgängen in ihm usw.. Was liest man stattdessen vielfach in den Zeitungen: „Forscher bringen Robotern bei, Schmerz zu fühlen“.

Das ist natürlich auch eine Art von Bullshit-Journalismus, der in der Bevölkerung die Vorstellung weckt, die Forscher hätten etwas entdeckt, was sie unter Umständen – ich würde frei heraussagen – gar nicht entdecken können.

Kann man Fakten widersprechen? Ich erinnere mich an ein schönes Essay von Hannah Arendt vor fünfzig Jahren „Wahrheit und Politik“. Es lohnte sich damals dieses Essay zu lesen und es lohnt sich heute wieder. Sie zeichnet darin faktische Wahrheit als Debattenverhinderin und damit als dem politischen Diskurs abträglich: „Jede Tatsachenwahrheit [schließt] jede Debatte [aus], und die Diskussion, der Austausch und Streit der Meinungen macht das eigentliche Wesen allen politischen Lebens aus […] Jede Wahrheit erhebt den Anspruch zwingender Gültigkeit, und die so offensichtlich tyrannischen Neigungen professioneller Wahrheitssager mögen weniger angeborener Rechthaberei als der Gewohnheit geschuldet sein, ständig unter einem Zwang, dem Zwang der erkannten oder vermeintlich erkannten Wahrheit zu leben.“[4]

Ich finde es etwas unfair, wenn Frau Arendt jeden Menschen quasi unter Neurosenverdacht stellt, der einen Streitpunkt im Szenario der Wahrheit abgehandelt sehen möchte. Aber im Grunde genommen hat sie Recht. Tatsächlich beobachtet und erlebt man immer wieder, wie mit der Totschlagformel „Fakt ist…“ eine Diskussion apodiktisch beendet wird. Mit „Fakt ist…“ kann man jeden Schwachsinn durchpauken. Die Formel etabliert ein Szenario der Macht. Fakten zu widersprechen würde also zunächst heißen, dass man eine bestimmte Debatte als ein solches Szenario entlarvt. Es würde weiterhin bedeuten, dass man das, was man als factum brutum vorgesetzt bekommt, als zu erklärende und zu begründende Meinung behandelt. Meinungen kann man widersprechen.

Umgekehrt kennen wir aber auch den unfruchtbaren Disput „Das ist deine Meinung, und das ist meine Meinung“. Also wieder dieses „He said / she said“. Ein solcher Disput hat heute mächtigen Erfolg. In diesem Disput verlieren die Fakten ihre Beweiskraft. Es ist also eine Ambivalenz, kein sicherer Gang, den man einschlägt. Man muss ein bisschen Urteilskraft an den Tag legen. Man könnte auch mit Wittgenstein sagen: Natürlich gibt es Fakten, aber das Sprachspiel, in dem sie die herkömmliche Bedeutung haben, beginnt sich zu ändern.

Dafür muss man sensibilisiert sein und dafür müsste man auch die Leserinnen und Leser sensibilisieren: für die Veränderung der Sprachspiele, die heute stattfinden. Das ist natürlich ein Problem. Die neuen Technologien haben uns mit besseren Mitteln gesegnet, Informationen zu erfahren, zu verarbeiten und weiterzuvermitteln, mit Kameras und Video. Audiorecorder sind überall und sobald etwas geschieht, ist es im Netz aufgezeichnet. Das kann zum Schluss verführen: Durch die verbesserten Möglichkeiten, reale Ereignisse zu dokumentieren, ist auch ein grösserer Konsens über Wahrheit gewährleistet.

Das erweist sich als Fehlschluss. Heute mehr denn je. Der dokumentarische Beweis scheint paradoxerweise an Überzeugungskraft zu verlieren, indem die Dokumentationsmittel sich verbessert und verbreitet haben. Wenn jeder Nutzer sich seine evidence zur Bestätigung seines Privatweltbildes leicht beschaffen kann, hilft empirisches Material nicht viel zum Aufbau eines Konsenses. Die Flut der Bilder wäscht die Beweiskraft des Dokumentes aus.

Gerade die amerikanischen Präsidentschaftswahlen haben demonstriert, wie das Netz überspült wird von viraler „Scheiße“. Es gibt eine regelrechte Industrie von „hoax news“, also von Jux- und Falschnachrichten. Wie unterscheiden wir zwischen wahren und falschen News? Wir unterscheiden nicht. Wir filtern. Von Sozialpsychologen wie Daniel Kahnemann haben wir gelernt: Angesichts einer Wahl von Informationsquellen unterschiedlichster Art entscheiden wir meist nicht rational, wir lassen uns vielmehr von Vorurteilen und Voreingenommenheiten leiten.

Wir finden uns dadurch natürlich in einem geschlossenen medialen Ökosystem Gleichgesinnter. Social Media begünstigt das Klima zur Bildung solcher Ökosysteme und bringt dadurch tendenziell etwas zum Verschwinden, was für die demokratische Diskussion und Deliberation vital ist: Öffentlichkeit bzw. den öffentlichen Raum. Kant hat die Gefahr schon gesehen. Er schreibt, dass „diejenige äußere Gewalt, welche die Freiheit, seine Gedanken öffentlich mitzuteilen, den Menschen entreißt, ihnen auch die Freiheit zu denken nimmt“. Sich öffentlich ausdrücken zu können heißt denken und dass zu unterbinden heißt denken und binden nach Kant. Denn wir denken eigentlich immer in Gemeinschaft mit anderen, „denen wir unsere und die uns ihre Gedanken mitteilen“, sagt Kant.[5]

Kant spricht noch von „der“ Gemeinschaft mit anderen. Diese Gemeinschaft erweist sich heute als zersplittert in eine Unzahl von Gemeinschaften. „Follower“ bilden in diesem Sinne keine Öffentlichkeit. Und wenn Kant auf die „äußere Gewalt“ hinweist, welche die Freiheit entreiße, sich mitzuteilen, so muss man heute von der „inneren Gewalt“ sprechen, welche die Öffentlichkeit – politisch: die Res publica – zerreißt. Eine unsichtbare Gewalt, die zerreißt. Wir sind frei uns mitzuteilen, aber jeder in seiner Parallelwelt gleicher Meinung. Wir koagulieren sozusagen um gleiche Meinungen. Die Ökonomen sprechen von Klumpenrisiken. Das Netz ist eine ungeheure Ansammlung von Klumpenmeinungen.

Die Aussichten sind selbstverständlich nicht rosig.

Die amerikanische Journalistin Caitlin Dewey schrieb bis zum 18. Dezember 2015 eine Kolumne in der Washington Post mit dem Titel „What was fake on the Internet this week“. Sie gab mit der Begründung auf: „In vielerlei Hinsicht verstärkte das Entlarven nur das Gefühl der Entfremdung oder Entrüstung, das die Leute bei einem bestimmten Thema hatten, so dass man wahrscheinlich mehr schadete als nützte.“ Man muss sich das sehr, sehr, sehr lange durch den Kopf gehen lassen. Die Bürger einer Demokratie fühlen sich immer mehr entfremdet, aber sie wollen sich über diese Entfremdung gar nicht aufklären lassen.

Fatalerweise geht der elementare Appell des Wörtchens „wahr“ vergessen: sich nicht zu bescheiden mit einem faulen Angebot von Meinungen; das Geschäft des Beweises, des Belegs, der Nachforschung, der Überprüfung, nicht zuletzt des eigenen Augenscheins dann aufzunehmen, wenn wir statt des „Er sagte / sie sagte“-Stils einfach nur hören wollen: „So sind die Dinge. Punkt.“ Das Geschäft ist oft schwierig, langweilig, riskant, vielleicht lebensgefährlich. Und es gedeiht nur in einer Gemeinschaft von Menschen, die sich bestimmten regulierenden universellen Ideen und Maßstäben verpflichtet fühlen. Ich meine, das ist auch ein Thema für den heutigen Journalismus. Nur so bewahren wir uns eine Welt, die nicht in ihrem Innersten von Predigten, Pressekonferenzen und Reality-TV zusammengehalten wird. Eine Welt, in der es Sachen gibt – Sachen zumal, die aufzudecken uns wichtig, und die zu verschweigen verderbt sind.

Brooke Binkowski, Chefredakteurin der faktenüberprüfenden Website „Snopes“ vergleicht ihre Arbeit mit jener von Sisyphus. Erinnern Sie sich daran, Camus hat Sisyphus in seinem Essay „Der Mythos des Sisyphos“ als glücklichen Menschen bezeichnet. Und in diesem Sinne möchte ich auf einer bitter-positiven Note enden: Seien wir fleißig und mutig – und versuchen wir glücklich dabei zu sein!

 

[1] Gehalten in Berlin am 17.11. 2016 im Rahmen des Symposions „Heiße Zeiten – Recherchen mit kühlem Kopf. Über die Kunst, die Gegenwart zu recherchieren und den Journalismus der Zukunft zu finanzieren“
[2] Michel Foucault: Der Mut zur Wahrheit. Vorlesungen am Collège de France 1983/84, Frankfurt a.M., 2010.
[3] http://archive.pressthink.org/2009/04/12/hesaid_shesaid_p.html
[4] Hannah Arendt: Wahrheit und Politik, Aus do.: Wahrheit und Lüge in der Politik. Zwei Essays, München/Zürich, 2. Auflage, 1987.
[5] Immanuel Kant: Was heisst: Sich im Denken orientieren? Werkausgabe in 12 Bänden, Hsg. W.Weischedel, Frankfurt a.M., 1977, Band 5, A325

Eduard Kaeser ist Physiker, Philosoph, NZZ-Gastkommentator.
Geburt 1948. Studium der theoretischen Physik. Zweitstudium der Philosophie und Wissenschaftsgeschichte in Bern. 1982-86 Assistenz und Lehrtätigkeit am Philosophischen Seminar Bern. 1987-1992 Mitarbeit an der interfakultären Koordinationsstelle für Allgemeine Ökologie in Bern. Habilitation, nicht eingereicht wegen Tod des Betreuers. Seither freie publizistische und Vortragstätigkeit. Gymnasiallehrer für Physik und Mathematik bis Sommer 2012. Thematisch dreht sich meine Schreibarbeit um zwei Gravitationszentren: Um die Möglichkeit einer Anthropologie – eines menschenmöglichen Lebens – in einer Welt der Geräte; und um die Möglichkeit eines lebbaren Universalismus in einer multikulturell fragmentierten Welt (Buchpublikation geplant: Über interkulturelle Zivilisiertheit).

Text: © Eduard Kaeser / Fleiß und Mut
Foto: © Christian Ankowitsch / Fleiß und Mut


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